Mehr als einfach nur Geld wechseln

Thomas Wetzlar, Inhaber der Agentur h-tw, Veranstalter der Kinderschuh Ordertage und nun auch Start-Up-Gründer für Scalerion.
Thomas Wetzlar, Inhaber der Agentur h-tw, Veranstalter der Kinderschuh Ordertage und nun auch Start-Up-Gründer für Scalerion.

Als Vertreter, Berater und Unternehmer ist Thomas Wetzlar im Kinderschuhbereich so aktiv wie kaum ein zweiter. Da sein neustes Projekt Scalerion aus Entwicklungen des Marktes resultiert, hat Childhood Shoes ihn zum Gespräch gebeten.

Der Schuhfachhandel hat sich ganz allgemein stark gewandelt. Hersteller, Handel, aber auch Handelsvertretungen müssen sich auf die Veränderungen einstellen und ihre Strategien anpassen. Häufig werden gerade die Akteure im Scharnier des Gefüges, die Handelsagenten, übersehen. Dabei liegen ihre Daumen auf beiden Seiten des Marktes am Puls der Zeit. Thomas Wetzlar ist einer von ihnen. Doch Jammern gehört nicht zu seines Kaufmanns Lied, eher schon ein immer engagiertes Jodeln. Er wandelte sich von einem reinen Handelsvertreter zum Berater und seit Neuestem mit Scalerion zum Start-up-Entrepreneur. 


Childhood Shoes: Was verbirgt sich hinter Scalerion?

Thomas Wetzlar: Als cloudgestützte Marktplatzlösung ermöglicht Scalerion es Lieferanten und Einzelhändlern, sich auf neue Weise zu vernetzen und Endverbraucher gemeinsam mit breiteren, attraktiveren und vielseitigeren Produktangeboten und Dienstleistungen am PoS zu begeistern. Der stationäre Einzelhandel verfügt über einen einzigartigen Kundenzugang. Doch während große Online-Händler längst erkannt haben, welches Potenzial in der Vermarktung ihres exponierten Kundenzuganges liegt, fehlte dem stationären Handel hierfür bislang die entsprechende Technologie. Diese Lücke schließt Scalerion und liefert Instrumente, die Einzelhändler in die Lage versetzen, als dezentrale, stationäre Marktplätze zu agieren und das eigene Produktangebot auszuweiten. Scalerion ist dabei für den Endverbraucher unsichtbar und präsentiert sich in der Anwendung als Lösung des Einzelhändlers.

CS: Können Sie uns einmal an einem Beispiel grob vorrechnen, welche Wirtschaftlichkeit im Kinderschuhhandel existiert?

TW: Wenn ein Händler ein Produkt mit zehn Stück und einem Einkaufspreis von jeweils 42 Euro beschafft, lässt sich daraus bei marktüblicher Kalkulation ein Bruttoumsatz von rund 1.000 Euro erzielen. Auf dieser Basis können wir uns ja mal drei unterschiedliche Szenarien ansehen, die sich im Übrigen auf viele Warengruppen übertragen lassen. Wenn alles gut läuft, verkauft der Händler 90 Prozent und verzeichnet lediglich eine moderate Abschrift von durchschnittlich 10 Prozent. In diesem Fall erzielt er nach Abzug der Mehrwertsteuer und seines Einkaufspreises von insgesamt 420 Euro einen Deckungsbeitrag von rund 260 Euro. Sinkt der Absatz auf 70 Prozent und erreichen die Abschriften im Schnitt 20 Prozent, ergibt sich bei derselben Berechnungsweise ein Deckungsbeitrag von gerade mal 50 Euro – und trotz harter Arbeit und vollem Risiko wird praktisch nur Geld für die Lieferanten gewechselt. Wirklich dramatisch wird es allerdings, wenn Artikel nicht funktionieren. Bei 20 Prozent Abverkauf und einer durchschnittlichen Abschrift von 30 Prozent schlägt plötzlich ein negativer Deckungsbeitrag zu Buche. Solch ein Artikel verzehrt mit einem effektiven Liquiditätsabfluss von 300 Euro all die Deckungsbeiträge, die mit starken Artikeln erzielt wurden. Wenn man nun bedenkt, dass der Gesamtabverkauf im letzten Sommer im Marktdurchschnitt bei gerade mal 64 Prozent lag und im Winter bei desaströsen 54 Prozent, muss einem um die Liquidität im Markt angst und bange werden. Waren im Lager bezahlen weder Mieten noch Gehälter – und werden dazu noch, gemessen am schnelllebigen Verbraucherinteresse, von Monat zu Monat weniger wert.

CS: Mit Scalerion wollen Sie eine neue unternehmerische Perspektive schaffen. Schildern Sie doch einmal, wie das genau gelingen soll.

Im Praxistest von Scalerion kamen Displays zum Einsatz, die sich in bestehenden Geschäften hochwertig integrieren lassen. Und bei der herkömmlichen Bevorratung lassen sich einzelne Modelle auch in die Hand nehmen und anprobieren. Ist das passende Modell in der gewünschten Farbe nicht vorhanden, wird es kurzerhand nachbestellt.
Im Praxistest von Scalerion kamen Displays zum Einsatz, die sich in bestehenden Geschäften hochwertig integrieren lassen. Und bei der herkömmlichen Bevorratung lassen sich einzelne Modelle auch in die Hand nehmen und anprobieren. Ist das passende Modell in der gewünschten Farbe nicht vorhanden, wird es kurzerhand nachbestellt.

TW: Der stationäre Einzelhandel hat in der Kundenwahrnehmung insbesondere deshalb so drastisch an Relevanz eingebüßt, weil sein Produktangebot zwangsläufig nach kaufmännischen Erwägungen optimiert ist. Berücksichtigt man die zuvor aufgemachte Rechnung, kann es sich der stationäre Einzelhandel schlicht nicht erlauben, Waren in seinen Sortimenten abzubilden, die keine hohe Abverkaufswahrscheinlichkeit bieten. Gleichzeitig sprechen auch Artikel, die keine Topperformer sind, Kunden an. Bereinigt der Händler sein Sortiment um solche Artikel, läuft er Gefahr, diese Kunden unwiederbringlich zu verlieren. Durch Scalerion können Lieferanten Einzelhändlern individuelle Vermittlungsangebote und -konditionen unterbreiten, aus denen der Handel die Artikel auswählt, die er verfügbar machen möchte. Für einen Händler mögen fünf verkaufte Schuhe von zehn bevorrateten Größen nicht attraktiv sein. Aus der Lieferantenperspektive hingegen können 100 Geschäfte, die jeweils fünf Paar verkaufen können, dennoch ein lukratives Geschäft sein – und eine spannende Möglichkeit zur Abgrenzung von seinem Wettbewerb bieten. Wenn man das durch Scalerion aktivierte Produktangebot um Musterteile ergänzt, kann der Endverbraucher eine Jacke oder einen Schuh beispielsweise in Rot anfassen und in Blau anprobieren. So hat er – und mit ihm der Händler – die Chance, seine Kaufentscheidung in hohem Maße vorzuqualifizieren.

CS: Gibt es Erfahrungsberichte von Testhändlern?

TW: In einem Testlauf haben wir unsere Lösung mit einem Lieferanten und drei Händlern validiert. Keiner der Händler hatte die Artikel, die wir seinerzeit verfügbar machten, in seiner Sortimentsplanung berücksichtigt und jeder nannte eigene Gründe, weshalb Scalerion unmöglich funktionieren könne. Der eine mochte die Ware nicht, die wir für den Test zusammengestellt hatten, und war fest davon überzeugt, dass das auch für die Kunden gälte. Der Nächste war absolut sicher, dass Kunden Waren immer sofort mitnehmen wollten. Und der dritte Händler wies uns darauf hin, dass die über Scalerion verfügbar gemachte Ware in Anbetracht des großen eigenen Warendrucks allenfalls als Lückenbüßer herhalten könne. Nach nicht mal vier Wochen hatte jeder der drei Händler aus den angebotenen Varianten 40 Paar Schuhe verkauft. Spannend war auch zu sehen, dass die Retourenquote gerade mal 3,5 Prozent betrug. Der Lieferant bot den Testhändlern 20 Prozent Provision auf den generierten Bruttoumsatz. Wenn man das mit dem Kalkulationsmodell bei vordisponierter Ware vergleicht, war das natürlich weniger, als die übliche Händlermarge betragen hätte. Im Gegensatz zum alten Geschäftsmodell erzielten die Händler über Scalerion aber mit jedem einzelnen verkauften Artikel sofort messbare Deckungsbeiträge. Das kommt einer Revolution gleich. Dazu können Händler die Erfahrungen über Scalerion natürlich nutzen, um ihr eigenes Sortiment weiter zu optimieren. Genauso machen es Amazon, Zalando und Co.


CS: Das alles klingt nach Software und Schnittstellen. Wie wird die Ware präsentiert?

TW: Scalerion stellt sich im Geschäft so dar, dass das Verkaufspersonal die Artikel und anschließend die Kundendaten in einer von uns bereitgestellten App erfasst und über das von uns kostenlos zur Verfügung gestellte Terminal kassiert. Natürlich kann der Händler auch über seine eigene Kasse kassieren, Scalerion bucht den Kaufbetrag dann beim Händler ab. Diese Prozesse werden zwischen Lieferant und Händler auf unserer Plattform vorbereitet: Der Lieferant lädt seine zur Vermarktung über Scalerion bestimmte Ware und deren Bestände hoch, vernetzt sich mit Handelspartnern und unterbreitet diesen individuelle Vermittlungsangebote. Dabei können nicht nur individuelle Provisionsangebote gemacht, sondern sogar individuelle Verkaufspreise festgelegt werden. Dazu kann der Lieferant entscheiden, ob er Musterteile bereitstellt, und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Aus dem sich bietenden Angebot wählt der Händler die Artikel und Varianten aus, die für ihn interessant sind. Die so aktivierten Artikel können dann über die von uns bereitgestellte PoS-Applikation vermarktet werden.

CS: Wie hoch ist der Aufwand, finanziell, organisatorisch und personell, um Partner von Scalerion zu werden?

TW: Scalerion an sich ist grundsätzlich erst mal kostenfrei. Die Industrie kann Artikel auf unterschiedlichen Wegen aktivieren und Bestandsmeldungen vornehmen. Dazu benötigen beide Seiten lediglich internetfähige Geräte. Beim Verkauf im Geschäft bietet es sich aufgrund der Mobilität aber natürlich an, Scalerion auf Mobilgeräten zu betreiben. Erforderlich ist das aber nicht. Ergänzend können Endverbraucher auch ohne Installation auf ihren eigenen Mobilgeräten einen Self-Checkout betreiben. Wir stellen sicher, dass jeder Verkauf dem involvierten Händler zugewiesen und entsprechend verprovisioniert wird. Lieferanten zahlen bei jedem Verkauf eine kleine prozentuale Gebühr für unsere Dienstleistungen. Dazu gehört auch die Zahlungsabwicklung. Scalerion betreibt hierfür nicht nur ein vollständiges Informations- und Transaktionsmanagement, sondern sorgt auch dafür, dass alle Parteien ihr Geld bekommen – natürlich mit BaFin-zertifizierten Prozessen.

CS: Werden Händler die Bestseller nicht weiterhin direkt ordern, während Scalerion das Kunststück zu vollbringen hat, Long-Tail-Geschäfte zu perfektionieren?

TW: Genau das würden wir jedem Händler raten. All die Artikel, die der Handel aufgrund seiner Erfahrung als sicher einschätzt, sollte er weiterhin auf eigenes Risiko bevorraten, sie für die Kunden zur sofortigen Mitnahme bereithalten und sich die volle Marge sichern. All die Artikel hingegen, bei denen er heute allenfalls Geld für die Industrie wechselt oder schlimmstenfalls sogar gute Deckungsbeiträge von Topperformern aufwenden muss, um diese in seinem Sortiment anbieten zu können, sollte er zukünftig besser über Scalerion abbilden. Scalerion bedeutet nicht „Entweder-oder“, sondern „Sowohl-als-auch“. Mit uns wird der stationäre Einzelhändler für den Endverbraucher wieder relevant.
Dazu möchte ich eine weitere Perspektive anbieten. Stellen Sie sich vor, wie einfach Hersteller ihre Marktdurchdringung mit Scalerion erhöhen und die Erreichbarkeit ihrer Produkte am PoS signifikant ausweiten können. Vielleicht sogar, um bereits platzierten Wettbewerbern Marktanteile abzunehmen – und das alles, ohne dass der Einzelhandel dafür Risiken übernehmen muss. Mit Scalerion wird Retail zum Service. Für beide Seiten. Dazu müssen Lieferanten nun nicht mehr die gewaltigen Risiken einer Vertikalintegration des stationären Einzelhandels eingehen, wenn sie um ihren Kundenzugang fürchten oder die Sichtbarkeit und Erreichbarkeit ihrer Marke steigern möchten, und können stattdessen bestehende, von unabhängigen Unternehmern betriebene Verkaufsstellen in ihr Direct-to-Consumer-Geschäft integrieren. Und das alles mit einem höheren Anteil an den Erlösen. Nach unseren Berechnungen können Einzelhändler ihre Deckungsbeiträge um das 50-Fache steigern und Lieferanten ihren Umsatz um gut 50 Prozent erhöhen. Ich sehe keine andere Lösung am Markt, die das auch nur annähernd erreicht.

CS: Andere Systemanbieter wie Schuhe24.de bringen vorhandene Lagerbestände auf Marktplätze. Welche Rolle spielen solche Marktplätze für Sie?

TW: Ich finde, dass Dominik Benner ein wirklich beeindruckendes Unternehmen geschaffen hat. Wir nähern uns demselben Problem, bloß aus unterschiedlichen Richtungen. Schuhe24.de liefert Händlern einen weiteren Absatzkanal und die angepeilten 100 Millionen Euro Jahresumsatz sprechen dafür, dass Endverbraucher dieses Angebot relevant finden. Wie bei Schuhe.de, dem Online-Marktplatz der ANWR und deren dortigen Engagements mit Schuh Mücke, ist Benner aber auch Wettbewerber seiner Marktplatzteilnehmer. Er mag nicht so groß sein wie Amazon und Zalando, aber das Prinzip ist dasselbe. Schuhe24 versucht, aus dem alten Geschäftsmodell das Beste herauszuholen. Ich hingegen habe eine andere Herangehensweise gewählt und mir nicht die Frage gestellt, wie man die alten Prozesse verbessern könnte, sondern, ob es nicht grundsätzlich auch ganz anders ginge. Besser. Effizienter. Meine Antwort ist Scalerion. 

CS: Wie viele und welche Marken würden Sie sich wünschen, die im Scalerion-Portfolio sein sollten?

TW: Über Scalerion können alle Produkte gehandelt werden, die auch im Online-Handel erfolgreich vermarktet werden – und noch viel mehr, da wir Erlebbarkeit gewährleisten. Ich habe den Eindruck, dass viele Hersteller auf der Suche nach stärker diversifizierten Vertriebskanälen sind. Nach über 15 Jahren in der Branche, fällt es mir im Schuhbereich naturgemäß am leichtesten, mit Herstellern in Kontakt zu treten. Hier führen wir bereits zahlreiche Gespräche und haben mit etlichen Lieferanten bereits Vereinbarungen für Piloten getroffen. Dazu werden wir auf der Messe Gallery Shoes ausstellen und versprechen uns weitere spannende Kontakte. Wir lassen das jetzt mal ganz unvoreingenommen auf uns zukommen. Ich bin davon überzeugt, dass wir für jeden Konsumgüterhersteller und für jeden Händler ein interessanter Gesprächspartner sind. 

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