Die Komplexität des Einfachen

Mit einem Baby kann jeder noch so kurze Weg zu einer echten Odyssee werden. Um die alltäglichen Hindernisse gut zu überwinden, stellen sich die Hersteller immer wieder der Aufgabe, bewährte Techniken noch weiter zu optimieren.

Sorgenlose Fahrt: Bordsteinkanten
und Pflastersteine stellen die Entwickler von Kinderwagen vor große Herausforderungen.

Mit dem Familienzuwachs ändert sich für Eltern auch der Blick auf die Umwelt ganz enorm: Das einstmals so charmant verwinkelte Treppenhaus oder der Kofferraum sind nun zu klein, als dass ein Kinderwagen Platz darin fände. Steile Bordsteinkanten oder steinige Feldwege werden mit dem Buggy zu kaum überwindbaren Hindernissen. Beginnen die Eltern dann auch noch, sich mit den Auswirkungen von Smog und Abgasen auf die junge Lunge zu beschäftigen, führt dies unweigerlich zu einer gewissen Nervosität: Kann es überhaupt einen Kinderwagen geben, mit dem man sorglos von A nach B kommen kann? 

Vom Leichten und vom Schweren

Zu den wichtigsten Merkmalen bei Kinderwagen zählen ohne Zweifel die Fahreigenschaften. Die Techniker der Hersteller arbeiten deswegen laufend daran, in diesem Bereich einen immer besseren Komfort zu bieten. „Das Fahrverhalten wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst, so etwa von der Beschaffenheit des Untergrundes, vom verwendeten Material oder dem Gewicht des Wagens“, erklärt Jörg Feyler, Geschäftsführer von Hauck. „Die meisten unserer Kinderwagen bestehen deshalb aus Aluminium. Durch so leichte Materialien sind Wagen mit einem Gewicht von circa zwölf Kilogramm auch mit größerem Kind noch leicht und einfach zu manövrieren.“ Allerdings darf ein Kinderwagen auch nicht zu leicht sein. Alexander Popp, Geschäftsführer und Chefentwickler bei Gesslein, erläutert: „Generell gilt: Je schwerer ein Kinderwagen, desto besser ‚liegt er auf der Straße‘. Das ist genau wie beim Auto. Die klassische Limousine hat auch ein besseres Fahrverhalten als der kleine Cityflitzer. Das steht allerdings im Widerspruch zu den Bedürfnissen vieler Eltern, die sich eher einen leichten und kompakten Wagen wünschen. Hier gilt es also, einen Mittelweg zu finden und das Fahrverhalten zusätzlich durch andere Faktoren positiv zu beeinflussen. Liegt etwa ein Großteil des Gewichts auf der Hinterachse und ist der Abstand zwischen Schieber und Hinterradachse möglichst groß, lässt sich der Wagen besser manövrieren. Beim Sportwagen beziehungsweise dem klassischen Buggy kann man das umsetzen, beim Schwenkschieber-Kinderwagen wiederum nur bedingt, denn hier muss der Aufsatz eher mittig platziert sein. In jedem Fall trägt auch ein durchgängiger Schiebergriff dazu bei, dass sich der Wagen leichter lenken lässt.“

Die Neuerfindung des Rades

Auch die Räder spielen eine entscheidende Rolle bei den Fahreigenschaften. „Weil Lufträder die Gefahr bergen, einen Platten zu fahren, haben die meisten unserer Kinderwagen Kunststoffräder“, sagt Jörg Feyler. „Darüber hinaus besitzen ausgewählte Modelle auch Voll-Polyurethan-Räder. Diese bieten noch wesentlich bessere Fahreigenschaften als Kunststoffräder. Sie sind voller PU-Schaum und können so zusätzlich zur Federung Erschütterungen sanft ausgleichen. Die Vorderräder unserer Kinderwagen sind um 360 Grad drehbar, können aber auch fixiert werden, wodurch sie je nach Untergrund individuell eingestellt werden können.“ Alexander Popp ergänzt: „Moderne Mehr-Komponenten-Räder, wie unsere ‚Air+‘-Räder, die Gesslein bereits seit 2014 einsetzt, kombinieren die Vorteile von Luftkammerrädern und Gummireifen. Durch das weiche EVA-Material im Inneren hat das Rad eine gute Eigenfederung. Die Gummiummantelung verhindert Dellen oder Abdruckstellen auf dem Reifen. Bei der klassischen Federung sind die Möglichkeiten begrenzt, denn nur ein bestimmter Federweg ist in der Praxis auch wirklich sinnvoll. Optimal für das Kind ist es, wenn der Aufsatz vom Rahmen entkoppelt ist, sodass sämtliche Stöße und Erschütterungen absorbiert werden.“

Der digitale Weg zum Optimum

Lukas Wubben, Ingenieur beim holländischen Hersteller Mutsy erklärt, wie moderne Entwicklungen das Design beeinflussen. „Wir suchen immer nach neuen Materialien und Produktionsprozessen. Wir nutzen dabei computergestütztes Design (CAD), um unsere Entwürfe zu optimieren und den Materialverbrauch zu reduzieren. Was die Materialien anbelangt, so verwenden wir technische Kunststoffe für stabile und sehr leichte Bauteile. Die CAD-Technologie ermöglicht es überdies auch, bestimmte Mechanismen schnell am Computer umzusetzen. Mithilfe von CAD können wir auch simulieren, wie sich jedes Teil zusammenfaltet“, so Lukas Wubben weiter. „So finden wir die perfekte Lösung, noch bevor wir ein einziges Teil als Prototyp anfertigen lassen mussten. Das erlaubt es uns, mit geringem Zeitaufwand viele weitere Konfigurationen und Designs auszuprobieren.“

Viele der Neuerungen, die so entstehen, sind dabei nur klein, zeigen aber mitunter große Wirkung. „Wir legen großen Wert darauf, unsere Modelle stetig zu verbessern, die Technik kontinuierlich zu modernisieren und neue Ideen einfließen zu lassen“, so Alexander Popp. „Das schlägt sich oft in kleinen technischen Modifizierungen nieder, die auf den ersten Blick kaum auffallen, aber das Handling deutlich verbessern. Regelmäßig setzen wir aber auch große Neuerungen um, wie etwa veränderte Gestellkonstruktionen oder eben vor zwei Jahren die angesprochenen ‚Air+‘-Räder.“

Es gibt aber auch Grenzen für Neuentwicklungen. Mehrere Klappmechanismen beispielsweise können zwar zu einer noch kleineren Abmessung führen, die Handhabung indes wird dadurch immer komplizierter. Komfort-Elemente wie eine gute Federung, große Räder oder eine durchgehende Schiebestange haben notwendigerweise ein gewisses Gewicht und eine Größe, die vorgibt, wie klein der Wagen werden kann. Dessen ist sich auch Lukas Wubben bewusst: „Das macht es zu einem spannenden Spiel, mit den gegebenen Grenzen das bestmögliche Produkt zu entwickeln.“

Andere Länder, andere Ansprüche

Bei der Produktentwicklung sind auch die unterschiedlichen klimatischen und kulturellen Gegebenheiten sowie auch das Kaufkraftniveau in den Abnahmeländern zu bedenken. Während in südlichen Ländern ein Sonnenschutz und eine gute Luftzirkulation unentbehrlich sind, muss ein Kinderwagen beispielsweise in Nordeuropa auch im Schnee lenkbar bleiben und das Baby vor Wind und Kälte schützen können. In Amerika, wo auch kürzere Strecken häufiger mit dem Auto zurückgelegt werden, werden vor allem die sogenannten „Shop and Drive“-Systeme gekauft, also Kombinationen aus Sportwagen und Autositz. In Europa hingegen werden eher Sets aus Wanne, Babyschale und Sportwagen nachgefragt. (ch) 

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Original aus CHildhood Business:

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Dieser Beitrag erschien in der gedruckten Ausgabe 03/2016 von Childhood Business.

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