Die digitale Kindheit

Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.
Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.

So klein Lottchen noch ist, sie marschiert bereits an der Spitze des Fortschritts. Keine vier Tage war sie alt, da saß sie schon in ihrer ersten Videokonferenz. Ihr erstes Foto wurde per E-Mail versandt und über ein eigenes Online-Bankkonto verfügt sie auch schon. Der nächste Schritt wäre, dass ich ihr einen Facebook-Account einrichte und ihr sonniges Lächeln auf Instagram vermarkte. Man kann mit dem digitalen Kapitalismus nicht früh genug anfangen. In Los Angeles betreibt ein Erstklässler seit vier Jahren einen der erfolgreichsten Influencer-Kanäle, auf dem er Spielzeug auspackt. Täglich lädt er auf YouTube ein lustiges Video hoch. Seine „Ryan ToysReview“ zählt 17 Millionen Abonnenten, die Eltern sind Millionäre. Wär das nicht was?

Lottchen ist der digitale Zirkus allerdings noch völlig einerlei. Unbeeindruckt von den neuen Apps auf Mamas Smartphone besteht sie auf eine vollkommen analoge Welt: Die Windeln müssen pünktlich gewechselt werden und Mama oder Papa sollen sie herumtragen, wenn das Bäuchlein wehtut. Schlüge ich Lottchen vor, sich doch mal mit Alexa zu unterhalten, während ich in Ruhe Zeitung lese, würde das nicht funktionieren. In Lottchens Reich herrscht körperliche Präsenzpflicht. Sie will keine Herzchen-Emoijs auf Twitter, sondern von Mama mit ins Bett genommen werden, weil sie da so schön einschlafen kann. 

Der Erstklässler von „Ryan ToysReview“ hat zwar Millionen Follower, aber hat der Bub auch einen einzigen Freund aus Fleisch und Blut, mit dem er spielen kann? Studien über das Internet-Verhalten von Jugendlichen zeigen, dass viele zwar eine Menge Kontakte haben, aber kaum echte Bindungen. Sie sind gemeinsam einsam. Die Zeit, die Kinder im Internet verbringen, wird immer länger. Statt draußen herumzutollen oder mit der besten Freundin in Pfützen nach Kaulquappen zu suchen, hängen schon Zwölfjährige durchschnittlich über drei Stunden täglich mit Fernsehen oder Computerspielen ab. Das geht natürlich auf Kosten der körperlichen Bewegung. 

Kein Wunder, dass unsere Kinder immer dicker werden und immer schlechter sehen. In Asien hat die Kurzsichtigkeit der Grundschüler extrem zugenommen. Dennoch ist die Digitalisierung des Unterrichts dort Pflicht, weil man die Lernleistungen und das Sozialverhalten der Kinder lückenlos registriert. Von der Leseschwäche bis zur Schulhofprügelei, alles geht in die digitale Kaderakte ein. Die Topbosse des Silicon Valley wissen jedenfalls, warum sie ihrem Nachwuchs den Internetzugang erschweren. Steve Jobs verbot seinen Kindern das iPad, Bill Gates’ Kinder bekamen erst mit 14 ein Handy und Tim Cook von Apple lässt seine Neffen nicht in soziale Netzwerke. Nie kämen sie auf die Idee, ihr Nachwuchs sei ohne Internet schlecht auf das moderne Leben vorbereitet. 

Das Smartphone bereitet Kinder nicht aufs Leben vor, es lenkt sie vom realen Leben ab, stiehlt ihnen einen Teil ihrer Kindheit. Es ist ein Surrogat, ein künstlicher Ersatz. Das wirkliche Leben ist geheimnisvoller, unkontrollierbarer und vor allem körperlicher. „Unsere tiefsten Erfahrungen im Leben, Geburt, Tod und Sexualität, sind körperlicher Art“, schrieb die US-amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Auf diese Erfahrung pochte wohl auch unser Lottchen: Ihre erste Videokonferenz wurde ihr schon nach wenigen Minuten zu langweilig. Sie beendete sie mit lautem Gebrüll. 

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