Wahr oder geschwindelt

Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.
Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.

Kinder und Narren, heißt es, sagen die Wahrheit. Wie zutreffend diese Erkenntnis ist, erlebte ich, als ich vor einiger Zeit bei meiner guten Freundin Claudia anrief. „Mama ist nicht da“, beschied mich ihr fünfjähriges Töchterchen, „sie ist im Bad und rasiert sich.“ Ähm, ja, dann rufe ich später an. Seither ist unser gemeinsamer Running Gag, dass ich Claudia, wenn sie nach längerem Klingeln abhebt, frage: „Und, warst du gerade im Bad?“

Apropos Wahrheit sagen: Unser Lottchen schwindelt in letzter Zeit ein wenig. Sie erweist sich beim Schummeln sogar als sehr kreativ. Ich vermute, das liegt daran, dass sie immer besser denken kann. Etwa zuletzt, als Lottchen ein Eis mochte. „Hast du denn schon eines gehabt?“, frage ich. „Ja“, antwortet sie wahrheitsgemäß. „Dann ist es für heute genug“, sage ich. Darauf Lottchen: „Nein, ich habe heute noch kein Eis gehabt.“ Das Umbiegen der Wahrheit zum eigenen Nutzen ist eindeutig ein Intelligenzfortschritt, nur bei der Umsetzung ging Lottchen noch etwas zu plump vor. 

Bei anderen geistigen Manipulationen der Realität ist Lottchen allerdings schon fitter. Etwa als sie kürzlich von mir noch eine weitere Gurke verlangte. „Du hattest doch schon vier“, meinte ich. „Die waren aber
gaaanz klein“, entgegnete sie. Lottchen lächelt bei ihren kleinen Schwindeleien so süß, dass ich ihr gern ein bisschen auf den Leim gehe. Kinder sind charmante Opportunisten, sie stellen die Realität so dar, wie es ihren aktuellen Interessen entspricht. 

Wenn wir ehrlich sind, ist es bei den Erwachsenen nicht viel anders – sie können die Dimensionen ihrer Lügengeschichten nur besser abschätzen. Manchmal sind aber auch Erwachsene zu einfältig und sagen uns die ungeschönte Wahrheit. Bei Politikern sind das seltene Sternstunden der Klarheit, die wir zu schätzen wissen sollten. Etwa jetzt bei Annalena, unserer Außenministerin. Vor den Wahlen hatte sie uns beispielsweise noch erzählt, dass Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet nur das Leid der Menschen verlängern. Kaum an der Macht und unter den Zwängen der NATO, liefert sie Waffen, was das Zeug hält. Zu den Ukrainern sagte sie jetzt, dass sie damit fortzufahren gedenke, „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Dass sie ihre pazifistischen grünen Wähler angelogen hat, spricht sie offen und mit Stolz aus. Hier hat ausnahmsweise mal nicht das Kind, sondern die Närrin die Wahrheit gesagt. Es würde mich aber nicht wundern, wenn Annalena im Winter auch nichts mehr von ihren jetzigen Versprechungen an die Ukrainer wissen will. 

Ein wahres Eldorado des Schwindelns sind Brettspiele mit Würfeln. Lottchen behauptet schon mal steif und fest, dass sie eine Sechs gewürfelt hat, obwohl es eine Vier war. Da muss der Wurf unbedingt wiederholt werden, weil der Bruder beim Würfeln störte, oder die Regeln werden plötzlich ganz neu ausgelegt. Da alle Kinder das machen, ist Papa als Schiedsrichter gefordert. Das kann ganz schön schweißtreibend sein. Man ist gut beraten, streng zu sein, denn was man dem einen Kind durchgehen lässt, das fordern die anderen bei sich umso mehr ein. Meistens passen die anderen Kinder aber akribisch auf, dass keiner schummelt. Unter Kindern würde das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern nie funktionieren. Sie würden sofort ausrufen: Der Kaiser ist nackt! Das Märchen gilt nur bei Erwachsenen, denn bei denen hängt die Karriere daran, dass sie mit den Wölfen heulen. Wie schön sind dagegen doch die unbedarften Brettspiele der Kinder – das kleine bisschen Schwindeln
hin oder her. 

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