
Lottchen will jetzt Indianerin werden. Das wollte ich in ihrem Alter auch, und daher hat ihre „Berufswahl“ meine volle Sympathie. Damals wie heute sind die Motive der Kinder ähnlich: Indianer sind frei und selbstständig. Bürgerliche Zwänge, die ein Kind schon in der Schulzeit einengen, quälen Indianer nicht. Sie sind wild und leben in der Natur, umgeben von Tieren und Wäldern. Selbst ihre Götter sind anziehend. Regentänze und Kriegsbemalung sind ganz nach Lottchens Geschmack. Sogar für Totems begeistert sie sich und sie hat nun ein Krafttier, das sie beschützt. Zur kindlichen Welt gehört eben auch die Welt der Magie – die Kinderliteratur ist voll von Hexen und Zauberkräften.
Lottchen nennt sich jetzt „Wirbelnder Wind“, und ich bin „Brummender Bär“. Wir haben für viele Freunde und Verwandte passende Indianernamen erfunden, die meist erstaunlich gut passen. Nur als Lottchen ihre Mutter „Schnatternde Gans“ nennen wollte, gab es Krach. Im Kinderzimmer steht neuerdings ein Tipi aus Decken und Tischbeinen, das vielleicht nur Lottchens Indianerfreundinnen als Zelt erkennen, aber umso authentischer ist es. In der Indianerschule lernt Lottchen das Anschleichen, Bogenschießen, Fährtenlesen und Feuermachen. Das ist doch viel spannender als Buchstaben schreiben oder das Einmaleins.
Ihre Liebe zu den Indianern verdankt Lottchen dem Indianerjungen Yakari, der in einer Zeichentrickserie mit seinem treuen Pferd „Kleiner Donner“ viele Abenteuer erlebt. Er reitet durch die Prärie, sitzt am Lagerfeuer und schleicht durch den Wald. Unter den Tieren hat er zahlreiche Freunde, mit denen er sich unterhalten kann. Sie stehen ihm in der Not bei, und er hilft ihnen, sich gegen Jäger und andere Gefahren zu verteidigen. Lottchen will jetzt auch Adlerfedern und schicke Indianerklamotten. Ihre kulturelle Aneignung der Indianerkultur ist ziemlich umfassend. Es gibt kein größeres Kompliment, kein ehrlicheres Zeichen der Verehrung, als so sein zu wollen wie das Vorbild. Das scheinen die Pädagogen zu übersehen, die den Kindern das „Indianerspielen“ verbieten wollen.
Yakari ist bei Mädchen beliebt. Lottchen meint, der Junge mit den schwarzen halblangen Haaren könnte ein Mädchen sein. Tatsächlich ist Yakari unheimlich sanft, er prügelt sich nie, brav erledigt er die Aufträge seiner Eltern. Wenn er Verbote übertritt, dann weil er es besser als die Erwachsenen weiß und am Ende recht behält und dafür gelobt wird. Huckleberry Finn schwänzte wenigstens noch die Schule. Wir überfielen damals imaginäre Postkutschen und schossen mit selbstgebastelten Schleudern schon mal die Kellerfenster eines Nachbarhauses ein. Müsste ein wilder Indianerjunge nicht mindestens mal Äpfel klauen? Yakari ist – wie viele Kinderserienhelden, etwa Zoe aus Lassie oder die Biene Maja – so hilfsbereit und moralisch, wie es kein wirkliches Kind sein kann. Er ist auf seine Weise ein perfektes Kind und das ist das eigentlich Problematische an dieser Figur. Mich würde es nicht wundern, wenn Yakari Müll trennt und den Bau eines Zeltlagers verhindert, weil da die Goldammer brütet. Yakari ist dermaßen pädagogisch wertvoll, dass von seinem Indianersein nur noch wenig übrigbleibt. Kinderserienmäßig befinden wir uns längst in einem Zeitalter des grünen Wilhelminismus. Häuptling „Brummender Bär“ bezweifelt, ob so viel moralische Vorbildlichkeit den Kindern guttut. Howgh, ich habe gesprochen!