Lottchen und der liebe Gott

Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.
Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.

Kinder tragen noch einen leichten, unbeschwerten Glauben an eine übernatürliche Welt in sich. Als sich Lottchen kürzlich am Finger verletzte und das Blut floss, fragte sie erschrocken: „Muss ich sterben?“ – „Nein,“ beruhigte ich sie, „nur Schmutz darf nicht in die Wunde gelangen.“ Nach kurzem Nachdenken wollte sie wissen: „Hat mir Gott geholfen?“ – „Dein Schutzengel passt auf dich auf,“ erklärte ich, „du solltest seine Hilfe aber nicht leichtfertig auf die Probe stellen.“

Wenn Kinder erfahren, dass Gott sie liebt, so wie sie sind, und sie von Engeln behütet werden, dann schenkt ihnen dieser Glaube an den „lieben Gott“ eine stille Stärke: Am Ende wird alles gut. Auch bei Lottchen ist dieses Urvertrauen durch Geschichten gewachsen, die wir ihr etwa über Weihnachten erzählen oder die sie in der Schule hört. Das kindliche Grundvertrauen gibt dem Kind die Gewissheit: Du lebst nicht nur aus eigener Kraft, sondern du kannst dich auch getragen wissen durch die höheren Mächte des Kosmos. 

Naiv sind die Kinder allerdings nicht. Lottchen hört die Geschichten zwar gern, doch stellt sie überraschend kritische Fragen, die beinahe das ganze Spektrum der Reli­gionskritik umfassen. Ob sich Gott auch waschen muss und ob er nass wird, wenn es regnet, will sie wissen. Der biblische Gott, der alles sieht und alles weiß, ist dabei besonders herausfordernd. Warum Gott denn Unfälle nicht verhindere, fragte Lottchen schon als Fünfjährige. Vor kurzem wollte sie wissen: „Mag Gott auch Diebe? Hat er die ebenfalls geschaffen?“ Ich antwortete etwas ausweichend, dass Diebe früher mal in die Hölle kamen, es aber mittlerweile sein kann, dass sie alle in Gottes Hand fallen, ganz gleich, was sie gemacht haben. Befriedigt hat Lottchen die Antwort nicht. 

Mein Eindruck ist, dass ihr ein gerechter Gott, der die Bösen ordentlich bestraft, viel lieber ist. Als die antiken Griechen begannen, ihre Göttermythen infrage zu stellen, meinte Xenophanes: Hätten die Pferde Götter, wären sie pferdegesichtig. Demnach müssten die Götter der Kinder kindergesichtig sein. Kinder projizieren zwar auch ihre Ängste und Hoffnungen in den Himmel, aber sie wollen keinen Kindergott, der sich nicht traut über die Strasse zu gehen oder der sich vor dem Gewitter fürchtet. Schon als Lottchen und ihr Cousin mit ihren Plastikschwertern Burgen stürmten, schlugen sie sich wie kleine Berserker durch ihre Gegner. Ein zorniger Gott, der mit einer Sintflut unter den Widersachern aufräumt, war damals ganz nach ihrem Geschmack. Inzwischen ist sie milder geworden – ihr kindlicher Narzissmus und ihre frühere Grandiosität haben einer realistischeren Selbsteinschätzung Platz gemacht.

Viele Mythen scheinen überhaupt ein Echo unserer kindlichen Welterfahrung zu sein. Den antiken Opferkult, mit dem Menschen die Götter gnädig stimmen wollten, habe ich erst durch Lottchen wirklich verstanden. Einmal verweigerten wir ihr ein Eis. Sie empfand das als tiefe Ungerechtigkeit und weinte bitterlich, suchte dann aber doch Trost im Schoß der Mutter. Ist das im Kern nicht dasselbe wie bei den antiken Menschen, die den Gott, der ihnen eine Seuche schickte, zugleich anbeteten, um sein Herz milde zu stimmen? 

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