
Wie doch die Zeit vergeht! Im Herbst kommt Lottchen in die Schule und das Ereignis wirft schon seit Monaten seine Schatten voraus, besser gesagt: Licht und Schatten. Denn Lottchen ist voller Vorfreude, weil sie dann zu den Großen gehört, und sie will unbedingt lesen lernen. Im Kinderzimmer steht jetzt schon ein neuer Schreibtisch und einen Schulranzen zum Preis eines Kleinwagens (ich übertreibe ein wenig) haben wir auch bereits gekauft. Manchmal, wenn sie sich kindisch benimmt, frage ich sie, ob sie wirklich schon reif für die Schule ist. Dann reißt sie sich zusammen. Auch bei Lottchens Freundinnen ist die Vorfreude riesig. Ich bin nur gespannt, wie lange das anhält.
Denn die Einschulung ist, gelinde gesagt, ernüchternd. Schockierend ist die Lektüre der Berichte der Landeselternausschüsse zur Situation an den Berliner Grundschulen: Durchgängig ist von grenzwertiger Hygiene, Platzmangel, häufigem Unterrichtsausfall und unqualifizierten Lehrern die Rede. Da die Zustände offenbar flächendeckend so prekär sind, helfen die Protokolle allenfalls dabei, jene Brennpunktschulen zu identifizieren, die man unbedingt meiden sollte. Doch wohin dann? Im dreiseitigen Anmeldeformular unserer Einzugsschule entdeckte ich gleich drei gravierende Rechtschreibfehler. Wenn schon die Schulleitung elementare Regeln der Rechtschreibung missachtet, wie soll sie sie dann den Kindern beibringen?
Aber vielleicht will sie es gar nicht? Die Selbstdarstellung der Berliner Grundschulen offenbart eine surreale Parallelwelt: Sie wollen Kinderrechte stärken, Inklusion und Vielfalt verbreiten und es ist auffällig viel von Kompetenzen die Rede. Auf keiner Homepage fand ich auch nur den leisesten Hinweis darauf, dass man den Eltern und Kindern garantiert, dass sie nach vier Jahren lesen, schreiben und rechnen können. Lottchen soll nicht nur die Kompetenz zum Dividieren erwerben, sie soll dividieren können. Sie soll ein Märchen nacherzählen können und nicht nur eine ominöse Kompetenz dazu haben. Aber da legen sich Berlins Grundschulen nicht fest. Schließlich scheitern hier 50 Prozent der Drittklässler an den Mindestanforderungen, was bedeutet: Sie können nicht lesen und schreiben. Unter den Sekundarschülern verfehlen zwei Drittel in Mathematik die Mindeststandards – sie können nicht rechnen.
Die Berliner Schulen machen gar keinen Hehl aus ihrer Vernachlässigung elementarer Bildung. Fast alle Schulen pflegen eine entlarvende Wortwahl: So machen sie den Kindern lediglich „Bildungsangebote“. Angebote kann man auch ablehnen. Viele Schüler scheinen die Bildungsangebote eben einfach abzulehnen, was die alarmierenden Leistungsdefizite erklären könnte. Eltern und Schüler wären überdies froh, wenn die zivilisatorisch wichtige Regel der Gewaltfreiheit in einer Schule unverrückbar feststünde und nicht, wie es in bester Bildungsprosa heißt, „gemeinsam vereinbart und erprobt“ werden soll. Hätte man uns in meiner Schulzeit erlaubt, das Abschreiben zu „erproben“, hätten wir uns zweifellos für dessen Legalisierung entschieden.
Wir sind also auf alles gewappnet, lassen uns aber gegenüber Lottchen lieber nichts anmerken, sie soll ihre Vorfreude ja nicht verlieren. Die Qualität des Unterrichts steht und fällt ohnehin mit der Lehrerin. Die Spannung steigt also noch, bis im Herbst der Ernst des Lebens beginnt.