Lob und Tadel

Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.
Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.

Loben Sie Ihr Kind auch so häufig? Ich habe neulich mitgezählt, wie oft am Tag ich Lottchen lobe, und es war unfassbar oft. Man kann fast von einer Sucht reden. Ich lobe sie so regelmäßig wie ein Spielsüchtiger, der nicht aufhören kann, Münzen in einen Automaten zu werfen. Ich lobe sie für praktisch alles, was sie halbwegs gut macht. Hat sie den Mantel selbstständig zugeknöpft, lobe ich sie, putzt sie sich unaufgefordert die Zähne, sage ich: „Gut gemacht“. Trägt Lottchen ihren Teller in die Küche und nimmt auch noch meinen mit, rufe ich ihr ein anerkennendes „Toll!“ hinterher. In letzter Zeit übt sie das Schreiben des Alphabets. Jeder Buchstabe, der ihr gelingt, wird von einer enthusiastischen Lobesarie ihrer Eltern begleitet. 

Was bewirken diese allgegenwärtigen Lobeshymnen, die heutzutage bei Eltern so weitverbreitet sind, dass sie kaum noch hinterfragt werden? Zunächst schaffen sie eine Abhängigkeit: Lottchen will gelobt werden. Obwohl die meisten meiner „Bravo“-Rufe in Lottchens Wahrnehmung mittlerweile wahrscheinlich verpuffen, fällt auf, dass sie häufig zu mir kommt, um sich meinen Beifall abzuholen. Unser allgegenwärtiges Lob führt also dazu, dass unsere Kinder um Anerkennung buhlen. Die Eltern erziehen ihre Kinder damit unbeabsichtigt zu willigen späteren Usern von Instagram und TikTok, wo der Wettbewerb um „Likes“ und Herzchen den persönlichen Wert eines Menschen bestimmt. Gute Erziehung sollte jedoch genau das Gegenteil anstreben: Die Kinder sollten sich unabhängig von den oberflächlichen Bestätigungen sozialer Medien entwickeln. 

Mir scheint, das Pendel ist zu weit in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. Früher, noch bei meinen Eltern, dominierten der Tadel, die Strafe und die gesunde Ohrfeige. Heute das Lob und die Dauer­bespaßung. Das sieht zwar aus wie der größtmögliche Gegensatz, ist es aber nicht. Lob ist heimtückisch. Wir loben nicht, weil wir das angeblich so zerbrechliche Selbstwertgefühl des Kindes unablässig stärken wollen. Wir loben, weil wir das Kind in eine gewünschte Richtung lenken wollen. Denn unseren Applaus bekommt das Kind ja nur, wenn es brav das macht, was wir von ihm wollen: Zähne putzen, schlafen gehen, still sitzen usw. Die meisten Dinge würde das Kind freiwillig nie machen. Der Respekt der „modernen“ Eltern für die „Freiheit“ ihrer Kinder ist möglicherweise gar nicht so ausgeprägt, wie wir uns vormachen. Vielleicht wurden Kinder in der Geschichte der Menschheit noch nie so intensiv überwacht und bewertet wie von den dauerlobenden Prenzlauer-Berg-Eltern. 

Ich habe mich entschieden, Lob nur noch sparsam einzusetzen, und zwar dann, wenn es echt ist und angesichts der Leistung angebracht erscheint. Lottchen und ich sind immer noch auf Entzug, aber erste Erfolge stellen sich schon ein. Etwa beim „Mensch ärgere Dich nicht“-Spiel. In der Lobeshymnen-Phase lobte ich Lottchen ständig, etwa wenn sie die Anzahl der Felder richtig abzählte, die sie vorrücken durfte, oder wenn sie zweimal eine Sechs würfelte. Jetzt, in der neuen Normalität, beiße ich mir auf die Zunge, kommentiere nichts und bestehe überdies gnadenlos auf die Einhaltung der Regeln. Da fließen schon mal Tränen, wenn ich ihre Figur kurz vor dem Ziel schlage. Entgegen meinen früheren Befürchtungen demotiviert das Lottchen aber nicht. Sie will’s Papa zeigen, wischt die Tränen ab und spielt weiter. Der Sieg über Papa ist die stärkste Motivation und auch gut fürs Selbstwertgefühl. Wenn sie gewinnt, erhält sie von Papa etwas Besonderes: ein Lob! 

Gleich weiterlesen

Und sonst noch?