Mein Freund Edi schläft

Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.
Max A. Höfer war Assistent des Publizisten Johannes Gross, leitete das Politikressort des Wirtschafts­magazins Capital und wurde der Berliner Bürochef des Magazins. Heute ist er als Publizist tätig.

Lottchen hat eine Beziehung. Ich habe das zunächst gar nicht mitbekommen, es fing ganz harmlos an. Der kleine Freund gehört fast zur Familie. Man trifft sich täglich, meist en passant. Doch irgendwann ist es nicht mehr zu übersehen: Lottchen steht augenscheinlich auf den kleinen Begleiter. Edi ist ein bunter Geselle, der allzeit für reichlich Unterhaltung sorgt und vielfältige Geräusche von sich gibt. Allmählich wuchs Lottchens Begeisterung. Sobald sie ihn sah, rief sie: „Edi, Edi“.

Anfangs spielte sie nur kurz mit ihm und ließ ihn dann links liegen. Doch langsam wurde Lottchens Edi-Enthusiasmus unheimlich. Wenn sie ins Arbeitszimmer kam, brüllte sie „Edi, Edi“, obwohl Edi gar nicht im Raum war. Immer öfter rief sie schon nach dem Aufstehen: „Edi, Edi“, als sei er ein unentbehrliches Familienmitglied, dem die volle Aufmerksamkeit und Anerkennung der gesamten Familie gebührt. Auf dem Höhepunkt von Lottchens Edi-Manie kam sie uns vor wie eine Koffein-Süchtige vor dem ersten Morgenkaffee. Als sie wieder einmal voller Sehnsucht nach Edi schrie, schauten sich meine Frau und ich erschrocken an: Lottchen würde Edi wohl mehr vermissen als uns.

Das ist vielleicht der Zeitpunkt, an dem ich erwähnen muss, dass Edi kein Nachbarsjunge, sondern ein Handy ist, in Lottchensprache eben „Edi“. Edi gibt es in mehreren Versionen: Alle Smartphones sind Edi, aber auch die TV-Fernbedienung und ihr Spielzeug-Handy, das wir ihr infolge eines pädagogischen Missverständnisses kauften. Wir glaubten, Lottchens Fixiertheit lasse sich mildern, wenn wir ihr ein kindgerechtes Surrogat kaufen. Doch das Kinderhandy dudelte nicht nur sinnfreie Liedchen wie „Heute wollen wir singen und lernen, yuheee!!!“, sondern verstärkte Lottchens Lust auf das Original. Das war, zugegebenermaßen, manchmal auch lustig.

Als Lottchen gerade zwei Tage gehen konnte, schnappte sie sich ihr Spielzeughandy, hielt es ans Ohr, als würde sie telefonieren, trippelte zur Wohnungstür und winkte uns „Tschüss“ zu. In wenigen Minuten entdeckte sie auf meinem Handy mehr Features als ich in einem ganzen Jahr. Auf dem Rechner gab sie eine Kalkulation ein, die als Resultat „minus Null“ auswarf, eine mathematische Unmöglichkeit. War Lottchen ein Genie?

Aber größtenteils nervte Edi. Edi entpuppte sich als Eindringling, der sich von einem netten Unterhalter in einen penetranten Despoten gewandelt hatte. Noch schlimmer: Edi spiegelt uns, wie wichtig die elektronischen Begleiter geworden sind. Wenn Edi klingelt, lassen wir alles andere liegen und stehen. Fotos oder Videos werden herumgereicht wie in früheren Zeiten die Friedenspfeife. Die Kids übernehmen eigentlich nur die Prioritäten ihrer Eltern. 

Lottchens Edi-Manie war für mich ein Schock. Über Eltern, die ihren Kindern das Smartphone anschalten, um sie mit schwachsinnigen Filmchen ruhigzustellen, schüttelte ich den Kopf. Studien zeigen: Je mehr Smartphone, desto dümmer. Und jetzt litt mein eigenes Kind an Smartphonitis. Edi musste aus unserem Leben verschwinden. Wir verbannten Edi und seine Kumpane in den Untergrund, wo sie hingehören. Aufgeladen wird jetzt in der Schreibtischschublade, Mails werden heimlich im Badezimmer gecheckt, Videos nur geguckt, wenn Lottchen schläft. So ist Edis öffentliche Präsenz weitgehend beendet. Und Lottchen? Anfangs fragte sie: Edi? Edi? Edi? Wir antworteten: Edi schläft. Der Dauerstörer hat sich zu einem Langschläfer gewandelt. Sie vermisst ihn inzwischen gar nicht mehr. Zu langweilig. 

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Original aus CHildhood Business:

Cover der Ausgabe 01/2020 von Childhood Business

Dieser Beitrag erschien in der gedruckten Ausgabe 01/2020 von Childhood Business.

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