Kaum einer hat seinen Finger so nah am Puls der Branche – und zwar weltweit – wie Jörg Schmale. Als Chef der Kind + Jugend hält er Kontakt zu über 1.200 Unternehmen auf nahezu allen Kontinenten. Grund genug, ihn nach seinem diesjährigen Branchen-Resümee zu fragen.
Childhood Business: Die Kind + Jugend 2019 liegt nun schon etwas zurück. Wenn Sie auf die Ausrichtung in 2019 blicken – welche besonderen Entwicklungen hat es nach Ihrer Beobachtung in der Branche gegeben?
Jörg Schmale: Dazu zwei Stichworte: Digitalität und Mobilität. Wir haben auch in diesem Jahr wieder viele Neuentwicklungen bei digitalen Ausstattungen gesehen, die das Leben von Babys und Eltern erleichtern oder optimaler überwachen und steuern. Die hier bereits erzielten Fortschritte dokumentierte unsere Sonderschau „The Connected Kidsroom“ ja anschaulich. Darüber hinaus zeigten auch wieder viele Aussteller aus dem Care-Bereich, welche Vorteile digitale Helfer haben können. Mobilität hat bei Kinderwagen eine neue Stufe erreicht: die E-Mobilität. Schon im letzten Jahr wurden die ersten Modelle vorgestellt. In diesem Jahr wurden aus Prototypen handelsreife Musterkinderwagen. Ein sicher nicht neues Thema, aber eines, das neue Relevanz erhalten hat, ist „Nachhaltigkeit“. Die Messe hat dies gut abgebildet, nicht zuletzt durch unsere Nachhaltigkeitsinitiative im Bereich Textilien.
CB: Bei den Innovation Awards in diesem Jahr haben Preisträger aus China und Hongkong dominiert. Ist das der Ausdruck dafür, dass sich die lange als verlängerte Werkbank geltende Region künftig stärker emanzipieren wird?
JS: Der Vorteil unserer unabhängigen Jury, allesamt erfahrene Fachjournalisten des BCMI, ist, dass sie völlig unvoreingenommen die zu den Innovation Awards eingereichten Bewerbungen prüft und beurteilt. Dass in diesem Jahr chinesische Produkte häufiger vertreten waren, spiegelt von daher sicher auch die Innovationssituation wider: Asiatische Hersteller haben sich im Hinblick auf Qualität und Design deutlich weiterentwickelt. Viele nicht-asiatische Unternehmen reagieren darauf aber sehr überlegt nach dem Motto: Konkurrenz belebt das Geschäft.
CB: Viele Hersteller kaufen ihre Produkte bei OEM-Produzenten in Fernost ein. Ist damit nicht auch ein Absinken der Innovationskraft europäischer Anbieter verbunden?
JS: Das sehe ich nicht so: Die Erstausrüster fertigen nach den Vorgaben europäischer Auftraggeber. Die Innovation kommt in der Regel von letzterem. Die OEM-Produzenten können aktuell noch günstige Stückpreise anbieten, welches der zentrale Grund für die Produktion in Asien ist. Allerdings sehen wir hier auch schon erste Verschiebungen.
CB: Mit dem „Connected Kidsroom“ unterhalten Sie eine kleine Trendschau im „smarten“ Bereich. Auch in das Kinderwagensegment ziehen mit E-Antrieben digitale Neuerungen ein. In welchen Bereichen erwarten Sie für die kommenden Jahren die markantesten Neuerungen?
JS: E-Mobilität für Kinderwagen wird sich mehr und mehr etablieren. Das hängt einfach mit der Mobilitätswende zusammen, die mehr Lösungen fern vom eigenen Auto anstrebt. Der E-Kinderwagen ist hier eine gute Alternative für mobile Eltern, insbesondere wenn sie in bergigen Regionen wohnen. Digitalität wird bleiben und sich auf weitere Lebensbereiche ausdehnen. Smarte Kindermode ist hier ein Beispiel. Weitere Neuerungen erwarten wir naturgemäß im Bereich der Autokindersitze. Dass Italien für Neuanschaffungen bereits Kontrollsysteme vorschreibt, die benachrichtigen, wenn ein Kind im Wagen zurückbleibt, ist dafür ein Indiz.
CB: Gibt es Ausstellerbereiche, die stärker zulegen als andere?
JS: Das Wachstum in allen Bereichen ist moderat. Firmenfusionen oder ähnliche Marktbewegungen wirken sich allerdings auch dämpfend auf das Wachstum aus. Bisher gleichen sich diese Tendenzen immer wieder gut aus.
CB: Welche Veränderungen beobachten Sie, zumindest im deutschsprachigen Raum, bei Herstellern, sich stärker B2C-Messen zuzuwenden?
JS: B2C-Messen funktionieren nur sehr regional und sind für einen international ausgerichteten Hersteller wenig effektiv. Wer außerhalb Deutschlands als Hersteller Fuß fassen will, muss unzählige, ausländische Regionalveranstaltungen besuchen – oder er geht auf die Kind + Jugend.
CB: Besucherzahlen können im Zuge zunehmender Konzentration im Handel nicht wachsen. Wie gehen Sie diese Entwicklung an?
JS: In erster Linie mit einer verstärkten Internationalisierung. Wir hatten 133 Länder zu Gast – so viel wie noch auf keiner Kind + Jugend zuvor. Da ist das Potenzial an Ländern und in den Ländern noch lange nicht ausgeschöpft. Darüber hinaus adressieren wir verstärkt den Online-Handel. Richtig ist, dass sich die Anzahl der Personen, die von demselben Händler zur Kind + Jugend kommen, deutlich reduziert hat. Solange aber die richtigen und wichtigen Entscheider darunter sind, verschlechtert dies in keiner Weise das Ergebnis. Das haben wir auch in diesem Jahr wieder beobachten können.
CB: Was raten Sie Einkäufern im Fachhandel, die immer häufiger erwägen, „Ihre“ Fachmesse nicht mehr zu besuchen?
JS: Wir dürfen durchaus selbstbewusst behaupten, dass es keine bessere Informations- und Sourcing-Plattform für Einkäufer von Baby- und Kleinkinderausstattungsbedarf gibt als die Kind + Jugend. Die Messe bietet nicht nur den direkten Draht zu den wichtigsten und innovativsten Unternehmen im Markt, sondern vermittelt auch wertvollen Input zu zentralen Trend- und Handelsthemen. Produktneuheiten werden zu allererst auf der Kind + Jugend präsentiert. Man sollte diese Messe, die einmal im Jahr alle wichtigen Informationen und Kontakte bündelt, für deutsche Einkäufer sozusagen vor der eigenen Haustür, nicht verpassen.
CB: Hersteller beklagen, dass sie auf Messen für ihre Vertriebsregionen kaum noch neue Kunden treffen. Warum legen Sie ihnen dennoch einen Messeteilnahme ans Herz?
JS: Die Kind + Jugend ist mit 89 Prozent Auslandsanteil auf Aussteller- und 77 Prozent auf der Besucherseite extrem international aufgestellt. Jeder sechste Besucher kommt als Distributor oder Importeur auf die Messe und sucht nach einem neuen Geschäft für seine Region und sein Land. Natürlich kann nicht jeder Hersteller sein Vertriebsgebiet beliebig ausbauen – aber dies vollständig dem Wettbewerb zu überlassen, wäre ebenfalls grob fahrlässig. Daher ist die Kind + Jugend immer auch der perfekte Ort, um einerseits seine Bestandskunden konzentriert und gebündelt zu informieren, andererseits um stets zu prüfen, welche Vertriebsregionen vielleicht doch näherliegen als gedacht.